Fliehen oder bleiben?

Katharina Kuntner über Krieg und Nachkriegszeit

von Antonia Hafner

 „Das war eine grausliche Zeit.“ Das sagt Katharina Kuntner in unserem Gespräch mehrfach. Die zierliche Frau mit dem weißen Haar sitzt auf ihrem Sofa und erzählt langsam und bedacht. Sie wirkt belesen und erinnert sich an unglaublich viele Details.

1930, als sie als Kind einer Eichgrabener Bauernfamilie geboren wurde, war noch alles in Ordnung.  Doch bereits ihre vierte Schulstufe war von den Anfängen des Krieges geprägt. Mit zittriger Stimme erzählt sie von den ersten Fliegeralarmen.

Eines Nachmittags, als sie mit dem Rad von der Schule nach Hause fährt, erlebt sie einen der Tiefflieger hautnah.

„Ich fahr da herein und auf einmal hör ich schon den Tiefflieger. Ich hab mich dann in den Straßengraben hineingeworfen. Wie er drüber war, bin ich dann heimgefahren. Dann haben die Eltern gesagt: Wo warst du denn jetzt? Das war sehr aufregend für mich, aber natürlich auch für meine Eltern.“

Dann beginnt für die EichgrabenerInnen eine ungewisse Zeit. Es häufen sich die Berichte, laut denen die Russen Eichgraben immer näher kommen. Bald schon sind sie bereits in Wiener Neustadt. Als Kind kann sich Frau Kuntner nicht vorstellen, was das bedeutet.

Erst als die ersten Flüchtlinge aus dem Banat, einer Region in Osteuropa, durch Eichgraben ziehen, wird ihr klar, dass eine schlimme Zeit bevorsteht. Viele raten der Familie, die Gegend zu verlassen, das ist jedoch für die Eltern keine Option. Frau Kuntner erinnert sich:

© Antonia Hafner

 „Dann ist es still geworden.“

Und plötzlich sind sie da. Die Russen erreichen Eichgraben und es kommt immer wieder zu Übergriffen. Manche machen sofort alles in dem kleinen Ort zu ihrem Eigentum. Sie gehen in die Häuser der Menschen und nehmen, was ihnen gefällt. Einige tragen gleich mehrere Armbanduhren auf dem Handgelenk, andere lassen Besteck mitgehen.

„Dann waren wir einmal alle mittags zu Hause. Die Großmutter ist dann auch gekommen und die Mutter hat eine Suppe gemacht. Viel hat man nicht gehabt. Es gab keine Erdäpfeln, Brot, das war alles ausgeräumt. Keine Kohlen, Stahl, gar nix. Keine Hendeln, die haben‘s gleich geschossen. Also wir sitzen alle um den Tisch. Jetzt hatte die Mutter aber nicht so viele Löffel, dass wir alle die Suppe hätten essen können, weil die Russen alles mitgenommen hatten, was ihnen gefallen hat. Da mussten wir halt warten, bis ein paar gegessen hatten, damit wir auch essen konnten.“

Russische Straßenschilder aus der Besatzungszeit © Wienerwaldmuseum Eichgraben

Zu dieser Zeit plagt Katharina Kuntner täglich die Angst. Die Mädchen dürfen nicht mehr alleine auf die Straße gehen. Eine Zeit lang müssen Frau Kuntner und ihre Schwestern bei einer befreundeten Eisenbahnerfamilie übernachten. Dort gab es im Dach einen kleinen Verschlag, vor den ein großer Holzschrank geschoben wurde. In diesem Versteck wähnen sie sich in Sicherheit vor den russischen Soldaten.

Frau Kuntners Blick wird starr, wenn sie vom Krieg erzählt. Vereinzelt muss sie unser Gespräch unterbrechen, kann die Tränen nicht zurückhalten.
Erst als wir gemeinsam alte Fotos und Postkarten durchstöbern, lacht sie wieder und teilt lustige Erlebnisse mit uns.

Katharina Kuntners Elternhaus © Antonia Hafner

Dann bietet sie uns eine Jause an, in einer Art, die man nicht ablehnen kann. Fast so, wie man es nur von seiner Oma gewohnt ist. Am gedeckten Tisch gibt sie uns Ratschläge, als würden wir uns schon lange kennen. Wir gehen mit dem Gefühl, eine sehr starke Frau kennengelernt zu haben, die uns einen kleinen Einblick gegeben hat, wie Krieg sich für ein Kind angefühlt haben muss. Und wie lebendig die Angst auch 80 Jahre später sein kann.

Frau Kuntner beim Durchstöbern alter Fotos und Postkarten
Frau Kuntner beim Durchstöbern alter Fotos und Postkarten © Antonia Hafner

Was Christine Nöstlinger als Kind im Krieg erlebt hat, lesen Sie hier in unserem Interview.

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