Zwei Frauen auf der Flucht

Wie es einer irakischen Mutter und ihrer siebenjährigen Tochter gelang, nach Eichgraben zu fliehen

von Julia Sahlender und Mashiah Sheikh

Am besten an Österreich gefällt Hind Hamid, so sagt sie, dass es in der Natur der österreichischen Menschen liegt, zu helfen. “Alles ist gut in Österreich. Die Menschen sind frei hier.”
Sie und ihre Familie leben auf einem kleinen Berg am Rande von Eichgraben. Von ihrem Mietshaus schauen sie auf die bewachsene Hügellandschaft und die Ausläufer des Wienerwaldes. “Im Irak ist es nicht so grün, es sieht ganz anders aus.” Sie erinnert sich an trockene, heiße Tage. Mit Temperaturen bis zu 50 Grad und das ohne eine Klimaanlage, denn Strom gab es oft keinen.

Wenn die Heimat einem Angst macht

Diyala, die Provinz in der sie aufgewachsen ist, die für sie und ihre gesamte Familie immer Heimat war, ist zu einem der gefährlichsten Orte im Irak geworden. Einst bekannt für seine Dattel- und Orangenplantagen, steht die Provinz nordöstlich von Bagdad nun mit Enthauptungen und Bombenangriffen in den Nachrichten. Wesam, Hinds Mann, erzählt von einer Bombe, die das Haus getroffen hat, in dem sie im Irak lebten.
2003, nach der Absetzung der sunnitischen Regierung unter Saddam Hussein, begann die Situation für sunnitische MuslimInnen schwieriger zu werden. Zusätzlich müssen die irakischen PolizistInnen und SoldatInnen seit dem stetigen Abzug der US-Truppen ab 2010 alleine gegen den wachsenden Einfluss des IS kämpfen. Die zahlreichen religiösen und ethnischen Unterschiede in der Bevölkerung Diyalas tragen zu dem gewaltvollen Konflikt bei. Speziell SunnitInnen und SchiitInnen geraten oft aneinander. In Diyala musste Hind daher die sunnitischen Namen ihrer Kinder, Sajad und Sanarya, oft vor schiitischen MuslimInnen rechtfertigen. Nicht selten kam es zu unangenehmen Situationen auf Ämtern oder an Kontrollpunkten, wenn schiitische BeamtInnen die Ausweise der Kinder überprüften.

„Er hat ein gutes Herz“

Ihr Gesicht ziert ein breites Lächeln, wenn man Hind fragt, was sie besonders an ihrem Mann Wesam schätzt. “Er hilft mir immer. Er ist immer ruhig, er macht keine Probleme. Er hat ein gutes Herz und er macht immer Spaß.” Das Paar kennt sich bereits seit Kindestagen. Ihr gesamtes Leben lang wohnten sie direkt nebeneinander. “Unsere Häuser waren wie Zwillinge”, sagt Wesam und lacht.

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© Julia Sahlender

Seit elf Jahren sind sie verheiratet. Während sie im Wohnzimmer auf dem Sofa sitzen und miteinander scherzen, haben sie stets ein Auge auf die Kinder Sanarya und Sajad, die im Garten spielen. Sanarya schreit nach einer kleinen Auseinandersetzung mit ihrem Bruder auf. Sofort ist Hind auf den Beinen um im Garten Frieden zu stiften. Sanarya rennt aber in die Arme ihres Vaters. Sie ist eben Papas Liebling. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass Vater und Tochter neun Monate voneinander getrennt waren. Der Vater der Familie ist schon am 3. Dezember 2014 gemeinsam mit dem 10-jährigen Sajad in Eichgraben angekommen. Sajads 7-jährige Schwester Sanarya kam erst etwa neun Monate später gemeinsam mit ihrer Mutter Hind nach Österreich.

„Frag mich nichts!“

Einen Monat hat die Flucht von Mutter und Tochter gedauert. Zuerst sind sie über die Türkei mit dem Schiff nach Griechenland gekommen. Mit einem Schiff, auf dem solch ein Chaos herrschte, dass eine Frau ihre 5-jährige Tochter aus den Augen verlor. Hind nahm sich dem kranken und verängstigten Mädchen an. Das Kind hatte weder Kleidung noch Verpflegung bei sich. In Griechenland angekommen, mussten die drei einige Stunden zu Fuß gehen. In einem Auffanglager angekommen, hatte Hind mit Schleppern telefoniert und bewirkt, dass die Familie des Mädchens in das selbe Lager gebracht wird. Insgesamt war das Mädchen zwei Wochen in Hinds Obhut, bevor ihre Familie sie wiederfand.

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© Julia Sahlender

Wieder zu zweit machten sich Hind und Sanarya mit einem Schiff auf den Weg nach Athen. Hind erinnert sich, wie oft man sie abgewiesen hat, bis sie mit ihrer 6-jährigen Tochter endlich auf das Schiff durfte. Nach viereinhalb Stunden Schifffahrt in Athen angekommen, folgte nun eine Busfahrt nach Mazedonien. Den zwölf Kilometer langen Fußweg durch Mazedonien an die serbische Grenze legten Mutter und Kind zu Fuß zurück. Ihre Gruppe in Serbien bestand aus 26 Menschen, darunter neun Kinder. Wieder mit dem Bus gelangten sie nun nach Belgrad. Gemeinsam brachen sie auf nach Ungarn. Diesen Weg mussten sie zwei Mal beschreiten. Beim ersten Mal legten Hind und Sanarya die zehn Stunden zu Fuß zurück. An der ungarischen Grenze angekommen, wurden sie zurückgeschickt und bestritten den Rückweg ebenfalls zu Fuß. Nach insgesamt 20 Stunden Fußmarsch starb Hinds Zehennagel ab, ihre Füße waren längst übersäht mit Blasen. Beim zweiten Mal versuchten sie den Weg mit Schleppern zurückzulegen. Diese setzten sie auf halbem Weg im Wald aus. Wieder begann das Gehen, dieses Mal jedoch in der Nacht.

Als Hind nach den endlosen Strapazen endlich in Wien am Westbahnhof ankam und ihrem Mann Wesam in die Arme fiel, sagte sie nur eines: “Frag mich nichts!”
Der harte Weg hat sich ausgezahlt. Sajad hatte neun Monate nicht mit seiner Mutter telefoniert, nichts mit ihr gesprochen. Er hatte viel geweint in dieser Zeit.

„Ich bin hier für meine Kinder“

Den Irak hat die Familie aus vielen Gründen verlassen. “Was soll man machen, mein Land ist kaputt”, erklärt Wesam.
Hind konnte sich im Irak nicht frei bewegen, wie sie es wollte. „Ich durfte nie Hosen tragen, immer nur lange Röcke.“ Wenn sie eine andere Stadt oder eines der umliegenden Dörfer besuchte, musste sie immer ein Tuch um ihren Kopf tragen, um nicht schief angeschaut zu werden oder größere Probleme zu bekommen. Ihre Arbeitstage als Englischlehrerin waren äußerst anstrengend, da sie drei Klassen pro Tag mit je 60 Kindern unterrichten musste. „Die Schulen im Irak sind nicht gut. Es gibt zu wenig Personal und Gebäude. Kinder im Irak haben auch keine Rechte, nicht so wie in Österreich.“
Eines Nachmittags war Sanarya mit ihrem Großvater und Hind alleine zu Hause, als der IS kam. Die Familie wurde von den Terroristen in ihrem Haus eingeschlossen. Die kleine Tochter erinnert sich heute noch genau daran, als ihr mehrere Waffen an den Kopf gehalten wurden. In der Zeit danach führte die radikalislamische Miliz immer wieder regelmäßige „Kontrollen“ durch. „Sie haben mir all meinen Schmuck gestohlen, einfach vom Hals gerissen“, erzählt ihre Mutter.

Ihr Alltag in ihrer alten Heimat war schwer. Egal wohin sie gingen, die Angst ging immer mit. „Erst vor kurzem wurden acht Frauen in unserem Dorf ermordet. Immer wenn Hind in der Arbeit oder sonst wo unterwegs war, hatte ich Angst um sie.“
Heute muss sich Wesam nicht mehr solche Sorgen machen, Hind fährt oft alleine nach Wien und auch zu ihren Kursen muss er sie nicht aus Angst begleiten. „Ich mache gerade den Deutschkurs A2, wenn ich fertig bin, möchte ich vielleicht Altenpflegerin werden.“

Wiedersehen
Das Wiedersehen von Mutter und Sohn nach neun Monaten. © Wesam Hamid

Was wünscht sie sich denn für Berufe für ihre Kinder? „Sajad soll Ingenieur werden, aber er liebt das Fußballspielen. Er spielt jetzt im Verein in Eichgraben. Wesam möchte, dass er Polizist wird. Aber entscheiden darf am Ende Sajad selbst. Sanarya will Ballerina werden. Im Irak hat sie Ballerinas nur im Fernsehen gesehen. Aufführungen oder einen Balletkurs gibt es dort nicht. Ich glaube aber, sie wäre eine gute Lehrerin.“
„Immer wenn ich einen Fehler beim Deutschsprechen mache, sagt sie ‚Papa, das ist falsch!'“, wirft Wesam voller Stolz ein. Aber egal was die Eltern wollen, auch Sanarya darf selbst über ihren Beruf entscheiden. Einer der vielen Vorteile für ihre Tochter in Österreich. „Ich bin hier für meine Kinder. Für ihre Zukunft!“

Auf die Frage, wo ihre Heimat ist, antworten beide Kinder “Österreich”.

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© Julia Sahlender

Lesen Sie hier, wie es Sajad in der Eichgrabener Volksschule geht.

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